Wie minimal darf ein Minimum Viable Product sein?

Die zunehmende Verbreitung von Minimum Viable Product (kurz: MVP) Ansätzen ist ein Segen für uns alle. Wir als Kunden bzw. Nutzer bekommen attraktive, neue Produkte. Unsere Unternehmen können Produktangebote in kurzer Zeit auf den Markt bringen, ohne ein mehrseitiges Lasten- und Pflichtenheft zu erstellen.

MVPs („minimal lebensfähige Produkte“ in der deutschen Übersetzung) sind geprägt von einem einfachen Funktionsumfang. Fokussiert auf einen Bedarf, zu dessen Erfüllung es kein oder kein ausreichend gutes Angebot gibt.

Bevor der MVP auf den Markt kommt, wird eine gemeinsame Vorstellung davon entwickelt wie der MVP nach mehreren, erfolgreichen Iterationen – also Weiterentwicklungen – aussehen könnte. Aus jenem Zielbild leitet sich ab wie der MVP, also die minimal lebensfähige Produktversion, zum Zeitpunkt des Markteintritts ausschaut. Das Zielbild wird im Prozess geschärft und oft mehrfach modifiziert.

Die stetige Weiterentwicklung erfolgt mit Produktverwendern. Sie geben Bewertungen ab, bieten Optimierungsideen, lassen sich vielleicht sogar auf beobachtete Produktnutzungen in einem Use-Lab ein und tragen auf diese Weise zu einer nutzerzentrierten Weiterentwicklung bei.

Derartige Weiterentwicklungen verbessern die Bedienbarkeit (Usability) und zugleich den Nutzwert (Utility) des Produkts. Es entsteht in kurzer Zeit ein Produkt mit einer hervorragenden User Experience.  Das klingt, vom Ansatz her, traumhaft. Und ist es auch, jedenfalls in der Theorie!

Hervorragende, neue Produkt zu (er-)schaffen, die Kunden und Nutzer begeistern, eine hohe User Experience bieten und schnell steigende Nutzerzahlen erreichen ist für viele Unternehmen äußerst erstrebenswert. In der Praxis wird dieses Ziel unter Anwendung des MVP Ansatzs oft jedoch nicht erreicht. Das liegt fast immer darin begründet, dass der Ansatz nicht richtig umgesetzt oder falsch verstanden wird.

Zentraler Fehler: Es kommen Produkte mit einem viel zu geringen Nutzwert auf den Markt. Man geht davon aus, dass eine gute UX durch Ausprobieren entwickelt werden kann – was natürlich nicht der Fall ist. Die Flop-Rate ist dementsprechend hoch; sie liegt meiner Erfahrung nach bei über 75%.

Nur 1 von 4 Minimum Viable Products (MVPs) wird ein Jahr alt!

Die erste gute Nachricht an dieser misslichen Situation: Der MVP Ansatz wird sich (dennoch) durchsetzen. Dazu tragen zwei Aspekte im Besonderen bei:

  1. Der MVP Ansatz passt hervorragend zu agilen Projektmanagementansätzen.
  2. Der MVP Ansatz geht von der Tatsache aus, dass sich der „wahre“ Wert eines Produkts erst nach dessen Verwendung einschätzen lässt. Anders formuliert: Produktideen müssen vom Konzeptstadium mindestens hin zum Prototypenstadium, will man deren Problemlösungsbeitrag zuverlässig abbilden.

Die zweite, gute Nachricht: Die Befürworter des MVP Ansatzes können die Flop-Rate deutlich senken, wenn sie den Austausch und die Zusammenarbeit mit Marktforschern suchen.  Das klingt jetzt sicherlich für viele von Ihnen nach einer scheinbar unlösbaren Herausforderung. Marktforscher und UX-/Digital-Designer, die auf den MVP-Ansatz setzen, haben in den meisten Unternehmen nicht die besten Voraussetzungen ein „Dreamteam“ zu bilden.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass in den meisten Unternehmen Stellen, Abteilungen und Tätigkeitsfelder von Marktforschern länger existieren als Stellen, Abteilungen und Tätigkeitsfelder von UX-/Digital Designern. Deren Rollen und Aufgabenbereiche entstanden erst in den 2000er Jahren, Marktforscher gibt es dagegen bereits seit den 1950er Jahren. Dementsprechend sind auch die Machtverhältnisse und die Anzahl an Stellen in den Unternehmen ausgeprägt.

Ein zweites, viel schwerwiegendes Konfliktpotential liegt darin begründet, dass Marktforscher gelernt haben Verhaltenseffekte vorherzusagen. Sie beherrschen entsprechende Tools und Methoden. Beispielhaft sei hier die Methode der Conjoint Analyse genannt. Marktforscher sind in der Lage auf Basis von rein bildlichen und textlichen Beschreibungen der Merkmale eines Produkts Erkenntnisse zu dessen Absatzmenge bei unterschiedlichen Preisen und unterschiedlichen Merkmalskombinationen abzuschätzen. Und das mit einer hohen Sicherheit!

Jene „Vorhersagetools“ existieren seit den 1980er Jahren und haben sich mehrfach bewährt. Sie sind einsetzbar für Gebrauchsgüter, Konsum- und Verbrauchsgüter. Mit Conjoint Analysen lassen sich verkaufsstarke Verpackungen für Schokoriegel ebenso entwickeln wie attraktive Angebote für Reiserücktrittversicherungen.

Dieses methodische Vorgehen – Nutzer befragen und Verhalten prognostizieren – widerspricht dem MVP Ansatz und der Idee hinter diesem Ansatz. Er (er-)fordert, dass mindestens ein nutzbarer Prototyp vorhanden sein muss – ein MVP. Erst auf Basis der MVP Nutzung und den dabei gewonnenen Eindrücken lassen sich Marktpotentiale erkennen, erschließen und Umsätze maximieren.

Hinzu kommt, und das steigert die Gemengelage zwischen Marktforschung & UX weiter, dass UX-/Digital-Designer die Tools & Methoden der Marktforscher oft nicht in ausreichendem Maße kennen und verstehen (was natürlich auch umgekehrt gilt).

Sie sehen, die Bedingungen für eine gute Zusammenarbeit zwischen UX & Marktforschung sind leider nicht die besten, die Lage scheint aussichtslos, kann aber, sie ahnen es, durchaus verbessert werden. Wie so oft liegt die Lösung darin aufeinander zuzugehen.

Gute User Experience basiert nicht auf reinem ausprobieren!

Damit 3 von 4 „minimal überlebensfähigen Produkten“ ihren ersten Geburtstag erleben, müssen Marktforscher und UX-/Digital Designer mehr miteinander reden. Sie sollten Interesse zeigen an der jeweils anderen Profession, ihren Arbeitsweisen, Tools und Methoden. Sie sollten voneinander lernen und auf einer besseren Verständnisgrundlage füreinander nach Anknüpfungspunkten der Zusammenarbeit suchen.

Marktforscher werden erkennen, dass sich erfolgreiche digitale Produkte nicht ausschließlich auf Basis von Umfragen und eleganten Analysemethode gestalten bzw. „berechnen“ lassen. Jene Produkte können ihren Mehr- und Nutzwert erst im Moment der Nutzung verdeutlichen und erlebbar („Experience“) machen. Sie werden zudem erkennen, dass sie sich als Marktforscher nicht mehr nur als Abteilung oder interne Dienstleister sehen sollten, sondern stattdessen in den agil arbeitenden Entwicklungsteams ganz eng mit UX Designern, Produktmanagern und Entwicklern zusammenarbeiten sollten.

UX-/Digital Designer werden erkennen, dass gute UX nicht durch ausprobieren entstehen kann. Sie werden zu dem Schluss kommen, dass sie sich gemeinsam mit Marktforschern in Zukunft dieser zentralen Fragestellung widmen müssen, bevor sie ein MVP, ein „minimal überlebensfähiges Produkt“ auf den Markt bringen:

Wann ist das Minimum nicht genug?

Anders formuliert: Wie minimal darf der Funktionsumfang sein, damit der MVP und damit das ganzheitliche, zielbildkonforme Produktkonzept nicht komplett in Frage gestellt wird?

Die Antwort auf diese Frage wird sich in der Zusammenarbeit mit den Kollegen/-innen aus der Marktforschung ergeben – oder sich in der Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern und Partnern finden lassen. Bestenfalls mit solchen Dienstleistern die beide Seiten verstehen und kennen: UX Design Agenturen, die auf einen forschungsbasierten Konzeptions- und Gestaltungsansatz setzen.

So werden 3 von 4 „minimal überlebensfähigen Produkten“ mindestens ein Jahr alt!

Die Erfolgsrate eines MVP Ansatzes kann deutlich gesteigert werden, wenn vor der Entwicklung des Zielbildes für den MVP Personas erstellt werden. Dies sichert die Auseinandersetzung mit Anforderungen, Erwartungen, Wünsche und Nutzungskontexten der Zielgruppe. Die Personas sollten auf Basis von Umfragen und bestenfalls ergänzenden Interviews entwickelt werden – nicht ausschließlich im Meetingraum erdacht werden.

Gemeinsam mit Vertretern der Personas lassen sich Design Workshops durchführen. Der MVP entsteht somit unter Mitwirkung der späteren Anwender: User Centered Design in Perfektion.

Gerade bei innovativen Produktideen, die im MVP Ansatz auf den Markt gebracht werden sollen, ist es ratsam ethnografische Studien durchzuführen. Hier bietet die Marktforschung ein breites Methoden- und Verfahrensspektrum. Häufig zielführend, vor allem im Kontext der Entwicklung neuer digitaler Produkte, sind Tagebuchstudien und Kontextanalyse in Form einer begleitenden Beobachtung, ergänzt um kontextuelle Interviews.

Die Durchführung von Conjoint Analysen ist ebenfalls geeignet, um mit einem Funktionsumfang zu starten, der einen angemessenen Nutzwert bietet. Erkenntnisse und Impulse zu einem ausreichenden Funktionsumfang eines MVPs können auch mit Hilfe von Mental Model Diagrams gewonnen werden.

Sie sehen: Es gibt sie, die Methoden & Verfahren aus der Marktforschung, die den MVP Ansatz optimieren und weiter professionalisieren. Nicht das Angebot an jenen Methoden ist das Problem, die Herausforderung ist, dass Marktforscher und MVP Verfechter zueinanderfinden müssen, damit sie miteinander arbeiten können. Nur so kann Großes entstehen, nur so lassen sich hervorragende, begeisternde Produkte schnell auf den Markt bringen und dauerhaft etablieren.

Und das Wichtigste zum Schluss: Ein derartiger Wandel in der Zusammenarbeit zwischen UX & Marktforschung kann nur gelingen, wenn auf beiden Seiten neben der Bereitschaft zum Zusammenarbeiten auch Geduld & Durchhaltevermögen vorhanden ist. Verändern von Mindsets, das dauert, geht nicht in 1-2 Jahren, weist einige Rückschläge auf, bietet aber für alle jede Menge Gelegenheiten für große Zufriedenheit im Job.

Darf ich Sie unterstützen Ihren MVP Ansatz zu optimieren?

Möchten Sie die Zusammenarbeit zwischen Ihrer Inhouse UX und Marktforschungsabteilung verbessern? Sind Sie auf der Suche nach einer UX Agentur, die einen forschungsbasierten Gestaltungs- und Entwicklungsprozess für Sie realisieren kann? Darf ich Ihnen helfen – als tätiger Marktforscher oder UX-Designer – die jeweils andere Profession (noch) besser zu verstehen?

Sprechen Sie mich gerne an.

Foto Thorsten Wilhelm

Thorsten Wilhelm

Gemeinsam mit meinen Kollegen/-innen von eresult, meinen Partnern aus den Beraternetzwerken Berater 37 und teneo begleite ich Sie bei der Sondierung des Status Quo, der Erarbeitung eines Zielbildes, eines verbesserten MVP Ansatzes und auch bei dessen Umsetzung.

 

Sie wollen sich selbst weiter mit dem Thema befassen?
Ich empfehle Ihnen die Gedanken von Uwe Todoroff im Ratgeberbeitrag: UX vs. MVP – Wenn das Minimum nicht genug ist.

 

 

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