Es ist stets eine große Bereicherung mit Andreas Hinderks über Usability, User Experience und UX Management zu sprechen. Ich freue mich daher sehr, dass Andreas mir und Ihnen für ein Interview auf nutzerbrille.de zur Verfügung stand.
Andreas ist ausgebildeter Informatiker, erfahrener Gestalter, Anforderungs- und Produktmanager in einer Person.
Seit 2016 gibt Andreas seine Erfahrungen als freiberuflicher Berater weiter. Zuvor war er in Unternehmen unterschiedlicher Branchen tätig. Auf Unternehmensseite übernahm Andreas planende, koordinierende und beratende Aufgaben in der Entwicklung, im Anforderungs- und Produktmanagement.
Als aktives Mitglied sowohl im Berufsverband der Deutschen Usability & User Experience Professionals als auch in der Gesellschaft für Informatik, und nicht zuletzt als eines von drei UEQ-Teammitgliedern (User Experience Questionnaire), leistet Andreas wichtige Beiträge, um für UX Denk- und Prozessmodelle, sowie einen effizienten Einsatz von UX Methoden zu werben.
Andreas verfügt über jene Fähigkeiten und Kompetenzen die nötig sind, um den UX Reifegrad von Unternehmen zu steigern und Digitale Transformation voranzutreiben. Zu diesen Themen werden Sie im Interview neue Sichtweisen und Gedanken erfahren. Weitere Themen unseres Interviews sind: Berufsbilder der UX Branche, UX Strategie und UX Management.
Berufsbilder der Usability & User Experience Branche
Lieber Andreas, seit dem Jahr 2001 bist du nun schon aktiv in Sachen „Missionieren für UX“; hast seitdem viele Unternehmen kennengelernt, sie beraten und als Planer & Architekt bei der Digitalisierung begleitet.
Du hast wertvolle Erfahrungen gesammelt und viele Fertigkeiten erworben.
Heute und im Rückblick: Welche UX Rollen und Berufsbilder hast Du bereits eingenommen und wie bezeichnest Du Dich heute – UX Designer, Digital Designer, UX Manager & Berater?
Andreas: In der Tat, ich bin schon seit knapp 20 Jahren im Berufsleben. Immer getrieben von der Vorstellung, dass das Produkt, was wir entwickeln auch vom Kunden bzw. Anwender akzeptiert wird.
Die Anfänge waren eher unspektakulär. Mein oberstes Ziel war es, die Wünsche der Anwender zu verstehen und umzusetzen. Damals war das noch ganz klassisches Anforderungsmanagement. Habe dann aber auch schnell gemerkt, dass klassische Entwicklungsverfahren wie Wasserfall und Co. schnell an ihre Grenzen stoßen. Man kann die Entwicklung am Markt bzw. die Kundenwünsche gar nicht so erfassen, dass sie beispielsweise für 2-3 Jahre gültig sind. Wir haben dann schnell erst auf Spiral-Development und dann auf Scrum gewechselt.
Unter diesen Bedingungen habe ich mich stärker auf die Usability und später ganzheitlich auf die User Experience konzentriert.
Bezeichnet hatte ich mich damals als Usability Engineer und später als UX Professional. Usability Engineer war noch ziemlich deutsch, weil Ingenieure ja immer einen guten Ruf hatten. Die Bezeichnung UX Professional war der generalistischen Arbeit geschuldet, die ich geleistet habe. Da war irgendwie alles mit dabei, von Informationsarchitektur bis zum UX Research.
Kompetenzen & Fertigkeiten eines UX Designer (w/m/d)
UX Designer (w/m/d) – gefühlt gibt sich jeder zweite UX Professional diese Berufsbezeichnung.
Wie bewertest Du diese Rollenbezeichnung – und was sollte ein „Designer für User Experience“ Deiner Meinung nach tun und können?
Andreas: (Lächelt) – ja, UX Professional ist irgendwie so generisch wie Unternehmensberater. Sagt irgendwie nicht viel aus. Ein Designer für User Experience ist auch noch ziemlich generisch hat aber schon einen Fokus auf das „Design“.
„Design ist mehr als nur bunte Bilder malen!“
Design ist sehr umfangreich und zielgerichtet. Wenn man den Begriff Design richtig verstanden hat, dann macht Designer für User Experience auch wiederum sehr viel Sinn.
Am wichtigsten ist, dass ein Designer für User Experience auch wirklich die Experience des Users im Blick hat. Und in diesem Fall muss der Designer sehr multidisziplinär sein.
Management des UX Reifegrad von Unternehmen
Du hast Dich als Praktiker aber auch Wissenschaftler mit UX Reifegrad-Modellen und UX Management Ansätzen intensiv beschäftigt – und auch international Erfahrungen sammeln können. Diese Gelegenheit möchte ich nutzen und Dich fragen: Spielen deutsche Unternehmen in Sachen UX Reifegrad Champions League, Europa League oder müssen sie sich für diese Ligen erst noch qualifizieren?
Andreas: Deutschland ist im europäischen Vergleich sehr gut aufgestellt, sowohl wissenschaftlich als auch in der praktischen Umsetzung. Der Vergleich mit den USA ist da schon etwas schwieriger. Da habe ich manchmal den Eindruck, dass die USA in der praktischen Umsetzung sehr viel professioneller sind als wir, in der wissenschaftlichen Behandlung des Themas aber nicht so stark sind.
Aus Latein-Amerika kommen sehr spannende wissenschaftliche Projekte hinsichtlich klassischer Usability. Und neuerdings auch sehr gute Ansätze für die Integration von UX in agiler Entwicklung. Ich würde mich dazu hinreißen lassen, dass wir zwar in der Champions League spielen, aber den Pokal noch nicht gewonnen haben.
UX Management – der lange Weg zur UX-driven Company!
Kommen wir noch einmal auf das Thema Berufsbilder zurück: Welche Qualitäten braucht ein UX Professional (w/m/d), der UX Denk- und Prozessmodelle von unten nach oben, also von der Mitarbeiter-Ebene hin zur Geschäftsleitung, etablieren will?
Andreas: Sagen wir mal so: Neben der fachlichen Fähigkeit sollte der UX Professional auf jeden Fall eine gewisse Empathie dem Unternehmen gegenüber aufbringen. Das wichtigste im ersten Schritt ist, dass das Team und die Geschäftsleitung an Bord sind. Das ist schon schwierig genug.
Am schwierigsten wird es aber dann mit den mittleren Schichten im Unternehmen, sofern noch vorhanden. Da sind in der Regel die größten Widerstände. Sie wollen ja etwas verändern und damit wird zwangsläufig das Immunsystem des Unternehmens aktiviert.
Als fachliche Qualifikation sollte man sich permanent weiterbilden, ausprobieren und ggf. mit externer Unterstützung neue Prozesse einführen.
„Oftmals ist man mit externer Unterstützung beim Steigern des UX Reifegrad erfolgreicher als alleiniger Prediger im Unternehmen!“
Ich kann mir vorstellen, dass es nicht viele Menschen gibt, die die nötigen Kompetenzen und Fähigkeiten aufweisen, um den UX Reifegrad eines Unternehmens zu steigern. Und falls doch, dann braucht es wohl viel Durchhaltevermögen. Können UX Reifegradmodelle das „Durchhalten“ (be-)fördern? Sie beschreiben Zwischenstufen, bieten die Möglichkeit sich von Stufe zu Stufe Ziele zu setzen und sich zu freuen, wenn sie erreicht werden. Das sollte doch motivieren. Wie bewertest Du UX Reifegrad Modelle – und worin siehst du deren Einsatzbereiche?
Andreas: UX Reifegradmodelle können das „Durchhalten“ nicht wirklich fördern. Sie stellen ja nur den aktuellen Stand der Dinge in Sachen UX Reifegrad dar. Die Unternehmenskultur muss zeigen, ob man mit dem aktuellen Stand zufrieden ist oder nicht.
Aber, und das ist der eigentliche wertvolle Vorteil eines UX Reifegradmodell: Es zeigt emotionslos den bisher erreichten Reifegrad. Das kann man gut „verkaufen“.
Welches UX Reifegradmodell kannst Du meinen Leser/-innen empfehlen?
Andreas: Das kann man so pauschal gar nicht machen. Dafür gibt es zu viele Modelle am Markt, mit zudem unterschiedlichen Ausprägungen.
Man sollte sich vor der Einführung eines UX Reifegradmodell über die verschiedenen Schwerpunkte des Modells informieren. Nicht jedes passt gleichermaßen zum Unternehmen. Zudem kenne ich auch noch Unternehmen, die ihr eigenes UX Reifegradmodell entwickelt haben. Das ist natürlich viel Arbeit, ist dann aber auch passgenau.
Welche Unternehmensbereiche sind Deiner Erfahrung nach oft (an-)treibend, wenn es darum geht ein UX Mindset in Unternehmen aufzubauen?
Andreas: Das ist sehr unterschiedlich. In der Regel reift das Team, angetrieben von dem Willen UX auch wirklich umzusetzen. Interessant ist in diesem Fall: UX wird immer im agilen Kontext umgesetzt. Und da kommt es ganz darauf an, welche Rollen in dem Team vorhanden sind. Sind ausgebildete UX‘ler an Board, so treiben die meistens. Oftmals treibt aber auch einfach der Product Owner an, da er direkten Kontakt zum Anwender hat.
Was aber auf jeden Fall zu einem Aufbau eines erfolgreichen UX Mindset notwendig ist: Die Geschäftsführung bzw. der Vorstand muss dieses Ziel und den nötigen Prozess zur Zielerreichung bedingungslos unterstützen. Wenn die Rückendeckung von der Führung nicht da ist, kann man nicht erfolgreich sein.
Der Blick in die Zukunft – die UX Branche im Jahr 2040!
20 Jahre Erfahrung in Sachen UX: Da kann ich schon einmal die (Zukunfts-)Frage wagen:
Wo steht die UX Branche in 20 Jahren? Werden Unternehmen mit einem ausgeprägten UX Mindset die Regel sein?
Andreas: Eine schwierige Frage. Ich denke, dass ohne ein ausgeprägtes UX Mindset ein Unternehmen in 20 Jahren nicht überleben kann. Das liegt darin begründet, dass der Anwender „schlechte“ Produkte einfach nicht mehr akzeptieren wird.
Vielleicht ist das aber nur eine persönliche Hoffnung meinerseits. Aber seien wir positiv: Die letzten Jahre haben ja gezeigt, dass Produkte, die eine gute User Experience produzieren, auch immer erfolgreich sind.
Sprechen wir im Jahr 2040 überhaupt noch von User Experience und UX Design – oder haben andere Begriffe UX verdrängt?
Andreas: Ich glaube nicht, dass UX durch einen anderen Begriff ersetzt wird. Ich vermute eher, dass sich UX aufteilen wird und vor allem spezieller wird. UX für Sprachassistenten wie Alexa und Co. ist etwas ganz anderes als für ein Smartphone. Zudem gehe ich davon aus, dass die Teammitglieder immer mehr UX Kompetenzen erlangen werden. Jedes Teammitglied wird zwar nicht zum UX Professional als solchen, aber hat neben dem UX Mindset auch noch direkte praktische Fähigkeiten das UX Mindset auch umzusetzen.
Im Idealfall ist der UX Professional nur noch Coach im eigenen Team.
Das ist doch ein schöner Ausblick. Vielen Dank, lieber Andreas, für Deine Gedanken, Anregungen und Überlegungen zum Status Quo und zur Zukunft der Usability & UX Branche. Ich hoffe sehr, dass Du auch in den kommenden 20-30 Jahren weiterhin erfolgreich daran arbeiten wirst, dass viele nützliche und zugleich innovative Produkte & Services geschaffen werden.